Nahezu jedes Unternehmen hat Werte definiert. Sie dienen als Leitprinzipien für Verhalten und Entscheidungen und prägen die Unternehmenskultur. Zumindest in der Theorie. In der Praxis führen Werte nicht selten zu Zynismus oder verpuffen wirkungslos, da die Werte oft austauschbar erscheinen. Begriffe wie Respekt, Verantwortungsbewusstsein oder Integrität liest man überall – von der Versicherungsbranche bis zum Baugewerbe.
Eine Studie der Marketingberatung Rainmaker analysierte die selbstdeklarierten Werte der hundert grössten Schweizer Arbeitgeber. Insgesamt wurden 130 Werte genannt, doch es gab viel Redundanz: Innovation und Kundenfokus tauchten bei 35 Prozent der Arbeitgeber auf. «Werte wie Vertrauen und Innovation sind so weichgespült, dass alle so weitermachen können wie bisher», sagte Carsten Schermuly, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie, in einem Vortrag.
Wenn die in den Werten definierten Ansprüche und die gelebte Realität auseinanderklaffen, so entsteht Zynismus. Volkswagen, Wells Fargo und Barclays betonten Ethik oder Integrität in ihren Unternehmenswerten, bevor ihr Fehlverhalten öffentlich wurde. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) verglich die deklarierten Werte von 500 grossen amerikanischen Unternehmen mit den Mitarbeitereinschätzungen auf der Arbeitgeber-Bewertungsplattform Glassdoor. Die Analyse ergab, dass kaum Zusammenhänge zwischen den veröffentlichten Werten und deren Wahrnehmung durch die Mitarbeitenden bestehen. Schlimmer noch: Vier von neun Werten – Zusammenarbeit, Kundenorientierung, Umsetzungsorientierung und Vielfalt – waren gar negativ korreliert, was bedeutet, dass es den Unternehmen in der Realität genau an diesen Werten mangelte.
Doch das grösste Problem ist, dass Werte als abstrakte Begriffe wahrgenommen werden und es unklar ist, welches Verhalten daraus folgen soll. Dies erschwert die Umsetzung im Arbeitsalltag. «Wir haben zwar Werte, aber jeder interpretiert sie anders», erzählte mir eine Kundin. Missverständnisse, Konflikte und fehlende Wirkung sind die logischen Folgen.
Doch wie können Unternehmen Werte glaubwürdig formulieren und im Alltag tatsächlich leben? Einerseits ist es entscheidend, Werte zu formulieren, die für das Unternehmen wirklich wichtig sind und es von seinen Wettbewerbern differenzieren. Dafür sollten Unternehmen Werte weglassen, die vorausgesetzt werden können. Denn wer beschäftigt schon Menschen, denen man erklären muss, dass sie sich respektvoll verhalten sollen?
Ebenso sollte man die Anzahl der Unternehmenswerte begrenzen. Niemand kann sich fünfzehn Begriffe merken, geschweige denn das eigene Verhalten in jeder Situation danach ausrichten. Experten sagen, dass die Obergrenze bei fünf Werten liege.
Wenn die Werte definiert sind, müssen sie in konkrete Verhaltensweisen übersetzt werden. Was bedeutet Exzellenz konkret? Was meinen wir, wenn wir Transparenz fordern? Die Übersetzung der Werte muss jeder Unternehmensbereich selbst erbringen. So ist beispielsweise der Wert Kreativität in der Buchhaltung ganz anders auszulegen als bei der Innovation.
Quelle: NZZ 13.10.2024 (Artikel leicht gekürzt)
Dem NZZ-Artikel ist eigentlich nichts beizufügen, denn in aller Regel handelt es sich bei den Werten um leere Worthülsen oder Phrasen, die sich aus den Perspektiven der einzelnen Unternehmensbereiche zudem noch widersprechen. Man ist deshalb versucht zu sagen, weniger ist mehr. Aber in der Praxis bedeutet das Festlegen von intelligenten Unternehmenswerten und das führungs- und bereichsgerechte Festlegen unterschiedlicher Inhalte doch ein gerüttelt Mass an Arbeit.