Reiseunlust im EU-Parlament

Einmal pro Monat verlässt jeweils montags ein Extrazug Brüssel in Richtung Strassburg. An Bord sind ein Teil der 766 EU-Parlamentarier, vor allem aber ihre in Brüssel stationierten Mitarbeiter sowie Angestellte der Parlamentsverwaltung. Auch Lobbyisten und Journalisten schliessen sich der Karawane an, die von der EU-Hauptstadt zum Sitz des EU-Parlaments zieht. Doch die einwöchigen Sitzungen in Strassburg sind bei den Parlamentariern seit Jahren unbeliebt. Viele würden lieber ständig im verkehrstechnisch besser erschlossenen Brüssel tagen, wo sich der zweite Sitz des EU-Parlaments und die wichtigsten anderen EU-Institutionen befinden.

Widerstand aus Frankreich
Am Dienstagabend hat das EU-Parlament in Strassburg einen neuen Versuch unternommen, der ungeliebten Reiserei ein Ende zu setzen. In einer nicht bindenden Entschliessung, über die am Mittwoch formell abgestimmt wird, betont das Parlament, dass es künftig selber über seinen Sitz entscheiden will und die Konzentration der Arbeit an einem Tagungsort für sinnvoller erachtet. Konkret will das Parlament nun selber ein Verfahren zur Änderung der EU-Verträge initiieren, die bis anhin Strassburg und Brüssel als Tagungsorte des Parlaments festschreiben.
Obwohl sich im Parlament eine Mehrheit für die Entschliessung abzeichnet, werden die EU-Staaten dem Ruf nach einem einzigen parlamentarischen Tagungsort kaum folgen. Für eine Änderung der EU-Verträge wäre Einstimmigkeit erforderlich, und namentlich Frankreich wird sich vehement gegen die Entwertung Strassburgs wehren. Das Hauptargument war auch von französischen Parlamentariern zu hören: Die dezentrale Organisation werde dem Charakter der EU besser gerecht als eine Zentralisierung. Sukkurs dürfte Paris von Luxemburg erhalten, das ebenfalls einen Teil der Verwaltung des EU-Parlaments und vielfach Treffen des EU-Ministerrats beherbergt.

Hohe Kosten und Hotelpreise
Die Dezentralisierung hat indes ihren Preis. In einem Bericht des zuständigen Parlamentsausschusses werden die Kosten des Transfers zwischen Strassburg und Brüssel auf rund 200 Millionen Euro oder auf rund 10 Prozent des Budgets des Parlaments geschätzt. Nicht nur 5000 Personen müssen jeden Monat nach Strassburg befördert werden, auch acht Lastwagen mit Akten fahren zwischen den beiden Standorten hin und her – die entstehenden CO2-Emissionen schätzt das Parlament auf bis zu 19 000 Tonnen pro Jahr. Obwohl das Strassburger Gebäude derzeit nur an 42 Tagen genutzt wird, muss es das ganze Jahr lang beheizt und unterhalten werden. Freude an der gegenwärtigen Regelung haben vor allem die Strassburger Hoteliers, die während der Sessionen die Zimmerpreise verdoppeln.
Viele Parlamentarier argumentieren, das Pendeln sei zu einem negativen Symbol der EU geworden, zumal die Finanzkrise in den Mitgliedstaaten zu schmerzhaften Ausgabenkürzungen geführt habe. Doch selbst wenn Frankreich bereit wäre, Strassburg aufzugeben: Momentan wäre es dem Parlament gar nicht möglich, ständig in Brüssel zu tagen. Denn der Plenumssaal im Brüsseler Gebäude weist bauliche Mängel auf, weshalb derzeit alle Plenumssitzungen in Strassburg stattfinden müssen.

Quelle: Niklaus Nuspliger, Brüssel: Reiseunlust im EU-Parlament. Neue Zürcher Zeitung 234 (20.11.13): 3

Altgewohntes muss nicht immer gut sein. Oder, was aus Sicht Lean Management angezeigt wäre, scheitert oft an politischem Widerstand. Damit steht die EU nicht alleine da.

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