Die Wirtschaft werde stabiler und allfällige Risiken durch Verteilung auf mehr Schultern minimiert. Mit solchen Versprechungen wurde die Globalisierung der Kapitalmärkte vorangetrieben. Doch die Annahmen sind falsch, wie Systemtheoretiker Stefano Battiston von der ETH Zürich mit Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz nachgewiesen hat. Vielmehr wird das System von einem bestimmten Verknüpfungsgrad an mit jeder weiteren Wirtschaftsbeziehung immer instabiler. Wie ein stabiles hochkomplexes System aufgebaut sein müsste, zeigt laut Battiston die Natur.
Herr Battiston, hat Sie der kaskadenartige Zusammenbruch des Finanzsystems in Folge der Subprime-Krise überrascht?
Nein, die immer häufiger und schwerer werdenden· Krisen bestätigen unsere Berechnungen zu hochkomplexen Systemen. Überschreitet ein hochgekoppeltes Netzwerk eine gewisse Dichte an Verknüpfungen, wird es immer instabiler. Danach steigt das Risiko, dass der Ausfall eines einzelnen Knotenpunkts eine Zusammenbruchslawine auslöst, praktisch exponentiell an. Das globale Finanzsystem hat diesen Wendepunkt offenbar überschritten.
Welche Grundmechanismen sind dafür verantwortlich?
Es ist die Anzahl der Verknüpfungen, kombiniert mit einem verstärkenden Rückkopplungsmechanismus. Überschreitet der Verknüpfungsgrad einen gewissen Schwellenwert, nehmen durch die Rückkopplung die Risiken aus dem Netzwerk überhand. Der Verstärkungsmechanismus ist im Finanzsystem und auch in allen Kunden-Lieferanten-Beziehungen das Kreditwesen. Wenn es einem Unternehmen gut geht, werden ihm bessere Kredit- oder Zahlungskonditionen zugestanden, was seinen finanziellen Zustand weiter verbessert.
Und wenn das Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät – verschlechtern die strengeren Kredit- und Zahlungskonditionen seinen Zustand zusätzlich?
Genau. Und es verschlechtert durch seine Schwierigkeiten auch die Konditionen der Kunden und Lieferanten, mit denen es verknüpft ist. So pflanzen sich die Probleme im Netzwerk fort. Vergleichbare Verstärkungsmechanismen gibt es auch in vielen natürlichen Systemen vom Klima über den menschlichen Körper bis zu Ökosystemen. Alle diese Netzwerke gehorchen den gleichen Grundgesetzen. In den Naturwissenschaften spricht man von einem kooperativen Verhalten.
Sie sprechen von Grundgesetzen. Sind diese das Ergebnis von Simulationsrechnungen?
Nein. Die Erkenntnis, dass ein hochkomplexes System ab einer gewissen Verknüpfungsdichte instabil wird, beruht nicht nur auf Simulationen. Die Modelle sind auch analytisch mathematisch bewiesen.
Aber Kooperativität ist die Grundlage unserer Wirtschaft. Ohne industrielle Arbeitsteilung wäre zum Beispiel unsere wirtschaftliche Entwicklung gar nicht denkbar.
Kooperativität ist tatsachlich eine sehr mächtige und grundlegende Eigenschaft. Sie ermöglicht Leistungen, zu denen die Einzelnen nicht fähig waren. Sie kann aber genauso destruktiv wirken, wenn keine Grenzen eingebaut sind, um problematische Ablaufe zu isolieren. Nehmen sie zum Beispiel Krebs. Eine Krebszelle in einem menschlichen Gewebe kann den gesamten Organismus zerstören. Eine Grenze zwischen den Individuen verhindert aber, dass der Krebs sich über die ganze Population ausbreiten kann. Genauso sind Viren auf bestimmte Arten und Regionen beschränkt. Die Natur hat ihr hochkomplexes System in viele kleine Systeme unterteilt, die nur einen begrenzten Austausch miteinander pflegen. So kann sie das Risiko von globalen Zusammenbrüchen verringern. Was passieren kann, wenn diese Restriktionen künstlich aufgehoben werden, zeigt sich jetzt in der Pandemiegefahr durch die Schweinegrippe.
Ist denn die Globalisierung nach Ihren Erkenntnissen eine Fehlkonstruktion?
So wie die Globalisierung bisher vorangetrieben wurde, beinhaltet sie systemische Fehler. Krisen sind an sich etwas Normales. Die heutigen Probleme entstehen durch die durchgängigen Verknüpfungen in einem einzigen, zusammenhangenden Netzwerk. Dadurch werden die Krisen schwerer, und sie verbreiten sich schnell über die ganze Welt.
Was heisst das konkret?
Wir haben zum Beispiel die Inhaberverhältnisse der 600 000 grössten international tätigen Unternehmen der Welt untersucht. Dabei fanden wir, dass 400 000 von ihnen in einem geschlossenen System von gegenseitigen Besitzverhältnissen stehen. Die Detailanalyse ergibt aber ein noch viel beunruhigenderes Bild: Es sind nur 127 Konzerne, zumeist aus dem Finanzbereich, die insgesamt 50 Prozent des produktiven Umsatzes aller transnationalen Unternehmen kontrollieren und diese 127 sind zudem noch gegenseitig über direkte Beteiligungen miteinander verknüpft. Diese Vernetzung macht es praktisch unmöglich, schwerwiegendere Probleme zu isolieren.
Das klingt alles sehr einleuchtend. Wieso haben die Wirtschaftswissenschaften diese Probleme nicht schon länger erkannt und etwas dagegen unternommen?
Für einen Naturwissenschaftler entsprechen unsere Berechnungen tatsächlich seinem intuitiven Verständnis. Er ist überall in seiner Arbeit mit hochkomplexen System konfrontiert. Die Wirtschaftswissenschaftler haben sich demgegenüber bis anhin auf statische Modelle abgestützt, we1che die einzelnen Risiken als voneinander isoliert betrachten. Das systemische Verständnis ist noch wenig entwickelt. Tatsächlich ist unser Forschungsgebiet aber auch noch sehr jung. Das erste mathematische Modell eines dynamischen, hochkomplexen Netzwerks wurde erst kurz vor dem Jahrtausendwechsel formuliert. Der mathematische Beweis der Destabilisierung als Folge einer zu starken Kopplung ist vor zwei Jahren gelungen.
Wird es lange dauern, bis sich der systemische Ansatz durchsetzt?
Ich bin der Überzeugung, dass unsere Modelle das Finanz- und Wirtschaftssystem sehr gut repräsentieren. Darum glaube ich auch, dass die systemische Betrachtung in Zukunft zum wissenschaftlichen Konsens wird. Dies zeigt sich zum Beispiel auch darin, dass die ETH im vergangenen Herbst das Kompetenzzentrum zur Bewältigung von Krisen in komplexen sozio-okonomischen Systemen (www.eess.ethz.ch) gegründet hat. Dieses erforscht nicht nur den Ablauf von Krisen in der Wirtschaft, sondern auch in sozialen, politischen und Verkehrs-Netzwerken.
Quelle: Sonntagszeitung, 3.5.09
Komplexität hat seinen Preis, was sich immer mehr herumspricht. Die schwierige System Beherrschbarkeit führt zu entsprechenden Risiken, beeinträchtigt die Marktleistung und Ertragsstärke.