Wie die NZZ in ihrer Ausgabe vom 4. Mai 2019 schreibt, ist Regula Rytz, Nationalrätin und Präsidentin der Grünen, das scheinbar Unmögliche gelungen. Sie hat einen politischen Bereich entdeckt, zu dem es «keinerlei Vorschriften und Richtlinien» gibt. Für den freiheitsliebenden Geist ist das geradezu eine Heilsbotschaft, aus Sicht der Entdeckerin hingegen eine Notstandserklärung. Ein regulierungsfreier Raum – das darf nicht sein! Freiheit ist gefährlich; sie kann nur zu Ausgrenzung, Ausbeutung, Energieverschwendung oder sonst in irgendeiner Weise zu Ungerechtigkeiten und Umweltverschmutzung führen.
So beantragt die Politikerin, dass der Bund mit einem Bericht all die dunklen Winkel dieser Regulierungslücke ausleuchte. Die Rede ist tatsächlich von dunklen Winkeln, denn es geht der Volksvertreterin um die Tageslichtzufuhr in Wohngebäuden. Sie sei noch nicht durch eine einheitliche Gesetzgebung geregelt. Ausserdem finde diesbezüglich keine Sensibilisierung statt. Der Bericht soll der erste Schritt sein, um Massnahmen zur Förderung der Tageslichtzufuhr in Wohnräumen abzuleiten.
Die grüne Politikerin ist offenbar der Meinung, dass die Bevölkerung, die über komplexe Themen wie die AHV-Finanzierung zu befinden hat, nicht in der Lage ist, die Qualität eines Wohnobjekts in Bezug auf Lux und Licht selber zu beurteilen. Das hingegen wirft ein helles Licht auf das Bild des «mündigen Bürgers» aus Sicht der Politik. Sie sieht ihn trotz wachsenden Investitionen im Bildungsbereich zunehmend als hilfloses Geschöpf, das ohne die helfende Hand des allwissenden Staates nicht durchs Leben kommt.
Dieses Menschenbild ist keine grüne Exklusivität, es gedeiht in praktisch allen politischen und bürokratischen Soziotopen. Zwar schwärmt die Linke vom Stimmrechtsalter 16, und die Bürgerlichen beschwören die Eigenverantwortung. Doch hüben wie drüben wird an der Infantilisierung der Bevölkerung gearbeitet. So strahlte der freisinnige Zürcher Regierungsrat Thomas Heiniger vor Glück und reichte seiner sozialdemokratischen Mitstreiterin die Hand zu einem «high five», als es gelungen war, den Hundehaltern im Kanton wiederum eine Zwangsbeschulung aufzudrücken. Der Bevölkerung im Kanton ist offenbar nicht zuzutrauen, den Zwergpudel ohne staatlichen Oberlehrer zu erziehen.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG), sozusagen Hohepriester des guten Lebens, hat ebenfalls viele kluge Ratschläge für den beratungsbedürftigen Bürger parat. Dank dem «Velo-Mittwoch» soll die Bevölkerung ermahnt werden, ihr Soll an körperlicher Ertüchtigung zu erfüllen, denn: «Bewegung ist äusserst gesund.» Kein Geringerer als der Amtsdirektor persönlich verwendete sich im Gespann mit dem SP-Nationalrat und Pro-Velo-Präsidenten Matthias Aebischer im Rahmen einer organisierten Tour als tugendhafter Modellradfahrer, von dem man lernen und abschauen soll. Das gleiche BAG hat anhand einer Studie überdies herausgefunden, dass die Raumluft in Schulzimmern nach einigen Stunden nicht mehr so gut ist. Denn: «Schulzimmer werden intensiv genutzt; meistens halten sich viele Personen gleichzeitig und während mehrerer Stunden darin auf.» Die Studie liefert prompt einen ausgeklügelten Lüftungsplan zuhanden von «Lehrpersonen». Er empfiehlt, das Schulzimmer am Morgen und am Nachmittag und in den grossen Pausen gut zu lüften.
Diesen Ratschlägen kann man nur beipflichten. Es zeugt allerdings nicht gerade von einem Vertrauensbeweis gegenüber den «Lehrpersonen», wenn man ihnen nicht einmal das regelmässige Fensteröffnen zutraut. Ob es wohl bald eine wissenschaftliche Studie gibt, die herausfindet, ob man besser zuerst die Schuhe oder zuerst die Hosen anzieht? Jedenfalls gäbe es hier noch Raum für Sensibilisierung – und eine Regulierungslücke.
Die Bürokratie treibt gerade im öffentlichen Bereich ihr Unwesen. Regulierungslücken oder Regulierungsunschärfen werden konsequent angegangen, ohne Rücksicht auf ein vernünftiges Kosten/Nutzen Verhältnis. Dies vermag weiter nicht zu erstaunen, ist die öffentliche Verwaltung dem Wettbewerb nicht oder höchstens indirekt ausgesetzt. Anders in der Privatwirtschaft, wo die Unternehmen oft im harten Wettbewerb zueinander stehen. Deshalb wird, implizit oder explizit, das Paretoprinzip gelebt. Es besagt, dass sich 80% der Probleme mit einem 20%igen Aufwand lösen lassen. Würde versucht, die restlichen 20% der Probleme auch noch zu lösen, so würde dies einen Aufwand von 80% erfordern. Das kann sich die Privatwirtschaft nicht leisten.