Tod durch fehlende Checklisten

Der Flug von New York nach Zürich verlief normal. Doch jetzt, eine knappe Stunde vor der Landung, kommt Unruhe auf in der Boeing 777. Die Cockpit-Besatzung ist ausgefallen, und es befindet sich niemand an Bord, der den Riesenvogel fliegen könnte. In der Not beschliessen Kabinenpersonal und Passagiere, drei zufällig im Flugzeug sitzende Chirurgen ins Cockpit zu schicken. Schliesslich gelten Ärzte als intelligent, vertrauenswürdig und erfahren im Umgang mit Stress, und sie müssen im Operationssaal auf unvorhergesehene Komplikationen reagieren können.

Doch Belastungsfähigkeit hin, Abgeklärtheit her, die Flugneulinge verfallen zunächst einmal in Hektik. Das Trio versucht, über Notfunk mit Zürich Kontakt aufzunehmen, und realisiert erst nach einiger Zeit, dass es sich wesentlich besser kommunizieren lässt, wenn man die Lautstärke am Gerät aufdreht. Auch die Manuale, Ablauf- und Checklisten an Bord bleiben lange unbeachtet. Und dass in der Bodenkontrolle durch eine schicksalshafte Häufung von Zufällen gleichfalls Ärzte das Fachpersonal ersetzen, trägt auch nicht zur Beruhigung bei.

Klare Aufgabenteilung hilft

Dann beginnen sie die Situation zu analysieren und stellen fest, dass kein Anlass zur Hast besteht, solange der Autopilot den Jet in der Luft hält und der Treibstoff reicht. Sie teilen die Aufgaben von «flying pilot», «non-flying pilot» und Verbindungsperson zur Bodenkontrolle untereinander auf. Sie identifizieren und bedienen Instrumente und Geräte nach den Anweisungen der inzwischen ebenfalls zu einem Team formierten Mannschaft in Zürich. Mit deren Anleitung und unter Überprüfung jedes einzelnen Schrittes arbeiten sie sich durch die Procedure- und Checklisten.

Schliesslich setzt der Grossraumjet sicher in Zürich auf – beziehungsweise auf der virtuellen Piste des Boeing-777-Flugsimulators der Sim Academy im Luftfahrt-Erlebnisrestaurant Runway 34 in Glattbrugg. Der Notfall an Bord war bloss supponiert; im wahren Leben wäre eine solche Ballung von Widrigkeiten höchst unwahrscheinlich.

Die Piloten dagegen, welche die Laien im Flugsimulator und in der Bodenkontrolle coachen, sind echt. Ihre «Flugschüler» sind Assistenzärzte in der Wirbelsäulen-Chirurgie des Kantonsspitals St. Gallen, des Berner Inselspitals und des Spitals Interlaken. Sie nehmen am zweitägigen Kurs «Spine Surgeon meets Pilot» teil. Geleitet wird dieser von Marc Studer, Kommandant einer FA-18-Staffel der Schweizer Luftwaffe und Doktor der Medizin, und Gunnar Jansen, gleichfalls FA-18-Pilot sowie Mitglied der Patrouille Suisse, Fluglehrer und Trainer für Crew Ressource Management (CRM).

Die beiden Berufsmilitärpiloten organisieren mit ihrer Firma Nodus GmbHvom Berufsverband der Schweizer Ärzteschaft anerkannte Weiterbildungskurse. Sie bringen Chirurgen den Umgang mit standardisierten Prozess- und Checklisten bei und schulen sie nach den Grundsätzen des CRM in situativer Aufmerksamkeit, Kooperation, Aufgabendefinition und Entscheidungsfindung sowie der damit zusammenhängenden Kommunikation. Das sind Fertigkeiten, die in der medizinischen Ausbildung nicht vermittelt werden, die aber im Operationssaal helfen, Stress- und Notfallsituationen zu bewältigen. «Mit einer guten Checkliste bringt man alles zuwege, sogar die Landung und den Start eines Verkehrsflugzeugs», sagt Jansen. Wichtig sei es, Lernprozesse laufend in die Checklisten einfliessen zu lassen. Und im Debriefing müsse im Sinne einer guten Fehlerkultur offen über Mängel und Irrtümer gesprochen werden.

700 bis 1700 Tote jährlich

Nachdem sich die Ärzte im «Runway 34» einen Tag lang vom Nutzen von Checklisten und klar definierten Prozessabläufen haben überzeugen lassen, wenden sie anderntags das Gelernte in der Academy for Medical Training and Simulation in Muttenz in ihrem angestammten Berufsumfeld an. Sie tragen jetzt nicht mehr Freizeitkleidung, sondern sterile blaue OP-Mäntel, Hauben und Mundschutz. Unterstützt von jeweils einer Operationsassistentin und betreut von ihren Chefs, die gleichzeitig als Anästhesisten fungieren, üben die sechs jungen Chirurginnen und Chirurgen in Zweierteams an Leichen drei Eingriffe zur mechanischen Versteifung degenerierter Bandscheiben von hinten, von vorne und von der Seite; solche Operationen werden in der Schweiz jährlich hundertfach durchgeführt.

Dabei arbeiten sie mit Prozess- und Checklisten, die Marc Studer und Ralph Läubli, Leiter der Wirbelsäulenchirurgie in Interlaken sowie ehemaliger Freizeitpilot, gemeinsam mit Lorin Benneker und Fabrice Külling, Läublis Berner und St. Galler Fachkollegen, entwickelt haben. «Es ist wie beim Fliegen», erklärt Läubli. «Auch wir haben einen Flugplan und eine Checkliste für die Arbeiten vor, während und nach der Operation. In allen drei Phasen können Fehler geschehen. Das Ziel ist, dass der Eingriff stets gleich abläuft.»

Läublis Postulat deckt sich mit den Forderungen der Stiftung Patientensicherheit Schweiz. Laut deren Schätzungen kommt es in Schweizer Spitälern jährlich zu 700 bis 1700 Todesfällen wegen Behandlungsfehlern; die Zahl der vorübergehenden und der permanenten gesundheitlichen Schädigungen ist um ein Vielfaches höher. Nach dem vielversprechenden Abschluss ihres nationalen Pilotprogramms «Progress! Sichere Chirurgie» in zehn Spitälern im Dezember 2015 verlangt die Patientenorganisation die flächendeckende Einführung von Checklisten mit den Bestandteilen «Sign In», «Team Time Out» und «Sign Out» als Standardverfahren bei chirurgischen Eingriffen.

Standespolitischer Druck

Die meisten der jungen Ärzte führen die einstündigen Eingriffe zum ersten Mal selbständig durch. Alle arbeiten sie nach identischen Vorgaben und meistern die Aufgabe ohne nennenswerte Schwierigkeiten. «Das läuft prima und auf jeden Fall viel besser, als wenn jeder Oberarzt nach seiner eigenen Methode operiert und die Assistenten zuschauen und die Haken halten müssen», stellt Marc Studer fest. Ralph Läubli ergänzt: «Wir sind quasi Autodidakten und wurden seinerzeit einfach ins kalte Wasser geworfen. Irgendwann musste man dann als Oberarzt Verantwortung übernehmen. Ich hätte gerne ein paar solche Kurse gemacht.» Überdies habe ein strukturiertes Vorgehen nach den Regeln des CRM den Vorteil, dass alle Assistenzärzte dasselbe Verfahren kennten, wenn sie nach jeweils zwei Jahren das Spital wechselten. Heute gelte das Prinzip «Drei Oberärzte, drei Methoden». Läubli fordert einen Kulturwandel von den unanfechtbaren Göttern in Weiss hin zu Teams mit einer funktionierenden Fehlerkultur.

Als nächste Teilnehmergruppe visieren Studer und Jansen mit ihrer Nodus GmbH, deren Name für die Verknüpfung von Luftfahrt und Medizin steht, die Chefärzte an. Sie hoffen, dass diese anschliessend standespolitischen Druck für eine bessere, normierte Ausbildung ausüben. Noch verdienen die beiden Militärpiloten mit ihrer Firma kein Geld. Sie leisten gewissermassen unbezahlte Freiwilligenarbeit und geben der Gesellschaft damit etwas von ihrer Ausbildung bei der Schweizer Luftwaffe zurück.

Dokumentierte Arbeitsabläufe, Kontrollen bei erfolgskritischen Teilprozessen und eine aufbauende Fehlerkultur sind unabdingbare Voraussetzungen für seriös geführte Unternehmen und Organisationen.

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