Pflichtenheft mit fragwürdigem Nutzwert

Wie die Handelszeitung in ihrer Ausgabe vom 5. März 2008 schreibt, betreiben Firmen meist riesigen Aufwand, um möglichst detaillierte Pflichtenhefte für die Software-Auswahl zu erstellen. Es gäbe aber Wichtigeres zu tun.

Das Pflichtenheft gehört in der Schweiz zum Auswahlverfahren für Business-Software wie das Amen in die Kirche. Die Unternehmen betreiben zum Teil einen immensen Aufwand, um möglichst alle Anforderungen an das künftige ERP System (Enterprise Resource Planning) im Detail zu erfassen. Schliesslich beschafft man nur alle sechs bis zehn Jahre ein neues betriebswirtschaftliches Gesamtsystem, und da soll auf keinen Fall etwas vergessen gehen.

Die Folge sind teils über hundertseitige Anforderungskataloge, aufgeteilt in Kategorien wie Techniken, Usability oder Auswertungen und bewertet nach den Wichtigkeitsattributen “Muss“, “Kann” und “Wunsch”. Aber lohnt sich dieser Aufwand wirklich, oder gibt es effizientere Alternativen zum traditionellen Pflichtenheft? Für Marcel Siegenthaler, Dozent am Institut für Business Engineering der Fachhochschule Nordwestschweiz und Mitveranstalter der Business-Software-Messe Topsoft, ist das Pflichtenheft zwar durchaus ein wichtiges Element im Software-AuswahIprozess. Es ist aber nur eines von mehreren, das zudem in vielen Fällen überbewertet und falsch eingesetzt werde. “Hundertseitige Pflichtenhefte an zehn Anbieter zu verschicken, ist ein aufwendiger LeerIauf”, so Siegenthaler, “ein Anwenderunternehmen kann die zurückkommenden Papierberge gar nicht mehr sinnvoll auswerten.” Dies führt im Endeffekt zu Bauchentscheiden, die durch persönliche Gespräche nicht nur effizienter, sondern wahrscheinlich auch treffsicherer wären.

Wichtiger als ein detailliertes Pflichtenheft ist für den Software AuswahI-Spezialisten Siegenthaler, dass erst einmal genaue Zielsetzungen definiert werden, was mit Hilfe der neuen Software erreicht werden solI. Danach müssen darauf aufbauend aus den Ist-Prozessen sinnvolIe SolI-Prozesse entworfen werden. “Dafür lohnt es sich, Zeit zu investieren”, so Siegenthaler. Als Alternative zum traditionelIen Pflichtenheft benutzt Siegenthaler in seiner Arbeit haufig einen Katalog, in dem die Geschäftsanforderungen und Prozesse formuliert werden.

Die Anbieter sind dann aufgefordert darzulegen, wie sie diese mit ihren Produkten praktisch umsetzen würden. Dieses Vorgehen hat zum einen den Vorteil, dass auch neue Herangehensweisen und Technologien Platz finden. Zum anderen ist so schon von Beginn weg ein Dialog mit dem Anbieter lanciert und damit ein partnerschaftliches Verhältnis aufgebaut, was auch für die spätere Projektumsetzung erfolgskritisch ist.

Im zweiten Schritt des Auswahlverfahrens rät Siegenthaler, die in Frage kommenden Anbieter zu einem je halbtägigen Workshop einzuladen. In dessen Rahmen sollen diese im Sinne eines Prototyping zeigen, wie sie mit ihrer Software eine in Form eines vorgegebenen Drehbuches vorbereitete, konkrete Fragestellung mit Echtdaten aus dem Unternehmen lösen. So sieht ein Anwender erstens schnell, ob der Anbieter seine Sprache spricht, und zweitens wird auch klar, inwiefern die Software sowohl den fachlichen Anforderungen gerecht wird als auch in Sachen Benutzerführung zum Unternehmen passt. Je nachdem lohnt sich sogar ein eigentliches Vorprojekt, bei dem die zentralen Komponenten mit echten Firmendaten getestet werden.
Dieser dialog- statt papierzentrierte Ansatz zahlt sich für ein Unternehmen auch in jenen Fällen aus, in denen sich herausstellt. dass die Lösung nicht passt. Durch die Diskussion der Lösungsvorschläge erhält man wertvollen Input von externer Seite. Die Anbieter haben zwangsläufig viel mehr Erfahrung, wie bestimmte Fragestellungen am besten gelöst werden, als ein Unternehmen, das sich nur alle sechs bis zehn Jahre im Rahmen der Systemevaluation intensiv damit befasst. Wenn man sich hinter dem Pflichtenheft versteckt, bleibt einem dieses Know-how weit gehend verschlossen.
Zudem hilft dieses Vorgehen auch zu verhindern, dass die Installation mit überflüssigen Funktionen überfüllt wird, die im Arbeitsalltag den Nutzwert beeinträchtigen. Aus seiner langjährigen Erfahrung weiss ein kompetenter Anbieter, welche Funktionen in der Praxis nicht bringen, was man von ihnen erwartet. Demgegenüber tendiert das Pflichtenheft, der funktionalen Überfrachtung Vorschub zu leisten, weil man unter keinen Umstanden etwas vergessen will.

Für die Auswahl der Anbieter gibt es noch einen weiteren, meist sehr aufschlussreich Test. Man baue in den Anforderungskatalog oder in das Drehbuch für den Workshop bewusst Unstimmigkeiten ein oder lasse wichtige Informationen weg. Wenn ein Hersteller nicht auf die Widersprüche und Lücken aufmerksam macht, sondern vorspielt, alles sei mit seinem Produkt spielend machbar, ist er kaum ein zuverlässiger Partner, dem man die Einführung der zentralen Software anvertrauen sollte. Ein Anbieter, der auch einmal widerspricht und auf Ungereimtheiten – z.B. auch in der Projektorganisation – aufmerksam macht, mag zwar unbequem sein. Im Endeffekt bringt er seine Kunden aber mit einer sehr viel grösseren Wahrscheinlichkeit ans Ziel.

Wichtiger als ein detailliertes Pflichtenheft ist vorerst, konkrete Ziele zu definieren, was mit Hilfe der Software erreicht werden solI.

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